Rede: Zum Gedenken an Oury Jalloh

Redebeitrag der Initiative „Keupstraße ist überall“ auf der Gedenk-Demonstration zum 10.Jahrestag von Oury Jalloh, 07.01.2015, Dessau

Am 9. Juni 2004 zündete der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in der Kölner Keupstraße eine Bombe. 800 glühend heiße Nägel schossen mit über 700 km/h durch die Luft, verletzten 22 Menschen teilweise schwer und zerstörten zahlreiche umliegende Geschäfte. Nur durch glückliche Zufälle fand dieser Anschlag keine Todesopfer.

Ziel des Anschlags war es, dort möglichst viele Bewohner_innen und Besucher_innen zu töten. Die Keupstraße ist bekannt als eine florierende Geschäfts- und Wohnstraße der „türkischen Community“ in Köln – weit über die Stadtgrenzen hinaus. Das Attentat auf die Keupstraße war eben nicht ein Angriff auf die Bewohner_innen einer beliebigen Straße, sondern galt, ebenso wie die gesamte Mord- und Anschlagserie des NSU, einer gesellschaftlichen Realität und Perspektive, in der migrantisches Leben integraler Bestandteil ist.73876

Die Initiative Keupstraße ist überall hat sich im Hinblick auf die Verhandlung des Kölner Nagelbombenanschlags von 2004 im NSU-Prozess gegründet. Um die Nebenklägerinnen und Nebenkläger in Ihren Forderungen nach lückenloser Aufklärung des NSU-Komplexes zu unterstützen und gemeinsam eine kraftvolle Antwort auf rassistische Gewalt zu formulieren.

Aber die Geschichte der Initiative beginnt nicht mit dem Bombenanschlag 2004, sondern erst über sieben Jahre später, mit dem 4. November 2011, dem Tag an dem sich der NSU selbst enttarnte und somit dem Zeitpunkt als der rassistische Hintergrund der Mord- und Anschlagserie auch von Ermittlungsbehörden und medialer Öffentlichkeit  nicht mehr vertuscht und verleugnet werden konnte.

Lange wurde der rassistische Hintergrund auch von linken und antirassistischen Gruppen nicht zur Kenntnis genommen. Dabei zeigt der Bombenanschlag auf die Keupstraße deutlich, wie der tödliche Rassismus von Neonazis im Zusammenspiel mit staatlichen Ermittlungsbehörden, Geheimdiensten und medialer Öffentlichkeit in der gesamten NSU-Mordserie funktioniert hat. Die rassistischen Morde und Anschläge fanden durch die Verfolgung der Behörden ihre Fortsetzung. In der gesamten NSU-Mord- und Anschlagserie ermittelten die Behörden in erster Linie gegen die Betroffenen, die Angehörigen der Opfer und deren Umfeld. Türen wurden eingetreten, Wohnungen durchsucht und die Betroffenen selbst immer wieder mit stigmatisierenden Ermittlungsthesen konfrontiert.  Die Medien und die Öffentlichkeit führten diese rassistische Stigmatisierung mit Zuschreibungen von „kriminellen Ausländermilieus“ fort. Das Wissen und die Perspektiven der Betroffenen wurden ebenso ignoriert, wie deutliche Indizien für eine rassistische Tatmotivation.

Neo-Nazis, also deutsche Täter, und somit der rassistische Hintergrund, sollten nicht benannt werden. Stattdessen wurden die Betroffenen des NSU-Terrors einer Opfer-Täter-Umkehrung ausgesetzt. Und dieses Schema findet sich immer wieder, in Fällen von rassistischer Gewalt und rassistisch motivierten Morden. Der rassistische Hintergrund wird von Ermittlungsbehörden systematisch ausgeschlossen und rassistische Gewalt immer wieder geleugnet. Dann wird ein rassistischer Mord zu einem Unfall umgedeutet, bei dem sich ein Mensch, fixiert auf einer feuerfesten Matratze, selbst verbrennt. Oder aber die Angehörigen der Mordopfer werden selbst mit Verdächtigungen überzogen, wie wir es beispielsweise im Zusammenhang mit dem Brandanschlägen in Mölln und Lübeck und in der gesamten Mordserie des NSU erlebt haben.

Aber was die zahlreichen Fälle von rassistischer Gewalt eint, ist eben nicht nur das unfassbare Leid, das verursacht wurde, und der Versuch der Leugnung dieser Erfahrungen. Es sind auch die zahlreichen Kämpfe, in denen die Betroffenen und Angehörigen sich die Hoheit über ihre Geschichte wieder aneignen und sie behaupten. Die Opferrolle wird durch einen Akt der Gewalt zugewiesen. Aber das Begegnen von rassistischen Verhältnissen, das Anklagen, das Einfordern von Rechten ist ein aktiver Prozess, der mit der zugewiesenen Opferrolle bricht.

Wir erleben das hier in Dessau, wo Freunde und Angehörige Oury Jallohs es mit solidarischer Hilfe geschafft haben, den Mord über zehn Jahre im Bewusstsein zu halten und immer wieder Fragen nach dem Tathergang öffentlich stellen. Das zehn Jahre später eine realistische Chance erkämpft wurde, den Fall noch einmal juristisch neu zu verhandeln, ist auch ein Ausdruck von Stärke.

Und wenn die Betroffenen des Kölner Nagelbombenanschlags dem erfahrenen Leid trotzen und nach Jahren der Drangsalierung durch Behörden in einem deutschen Gericht einem Teil der Täter gegenüberstehen und anklagen, ist auch das ein Ausdruck von Stärke. Und genau für dieses Moment möchten wir uns als »Initiative Keupstraße ist überall« am 20.1., dem Tag, an dem das erste mal Betroffene aus der Keupstraße im NSU-Prozess aussagen werden, stark machen. Gemeinsam werden wir mit den Nebenkläger_innen im und vor dem Gericht in München präsent sein. Nach dem Prozesstag wird es eine gemeinsame Demonstration geben, auf der noch einmal die Forderung nach einer lückenlosen Aufklärung des NSU-Komplexes zum Ausdruck gebracht wird. Auch an den weiteren Prozesstagen möchten wir Präsenz zeigen und den Nebenkläger_innen den Rücken stärken.

Wenn wir heute sagen „Keupstraße ist überall“, bedeutet das, dass die Nazis des NSU mit ihrem Versuch der rassistischen Spaltung gescheitert sind. Migrantisches Leben ist eine Realität und integraler Bestandteil dieser Gesellschaft, das weder durch rassistischen Populismus, noch durch Bomben- und Mordanschläge ausgelöscht werden kann. Die Keupstraße geht in die Offensive: Sie ist heute ein Ort, an dem rassistischer Terror angeklagt wird und solidarische Bündnisse geschmiedet werden.

In diesem Sinne: Keupstraße ist überall. 

Für eine Gesellschaft ohne Rassismus.

Wir sehen uns in München!