Redebeitrag der Initiative „Keupstraße ist überall“: Der NSU Anschlag und sein Nachspiel

Die folgende Rede wurde gehalten auf dem Straßenfest 30 Jahre LC36 am 30.08.2014 und dem „Tag des guten Lebens – Ehrenfeld“ am 01.09.2014.

Der NSU Anschlag und sein Nachspiel

Im Jahre 2004 wurden die Bewohner_innen der Keupstraße im Rahmen der terroristischen Aktivitäten der neonazistischen Organisation NSU Opfer eines Nagelbombenanschlags. Nach dem terroristischen Anschlag mussten die Betroffenen des Anschlages jahrelang ein perfides Programm der Ermittlungsbehörden über sich ergehen lassen, dass sie gezielt von Opfern zu Tätern machen sollte. Die Polizei hatte sich auf die rassistische Vorstellung versteift, dass die Betroffenen des Anschlags in kriminelle Aktivitäten verstrickt seien, weil sie einen Migrationshintergrund haben. Sie wiesen Hinweise der Bewohner_innen der Keupstraße, dass die Tat einen extrem rechten Hintergrund habe, zurück und schüchterten sie ein. Dies taten sie, um zu verhindern, dass sie ihre Vermutungen über einen rechten Hintergrund weiter äußerten. Die Polizei übte großen Druck auf die Betroffenen der Anschläge, auf ihre Familien und auf ihr soziales Umfeld aus. Diese sollten ihre Angehörigen beschuldigen. Die Kriminalisierungspraxis führte dazu, dass das Leid der Anschläge durch Verdächtigungen verstärkt und in die Länge gezogen wurde. Bei dieser Repression halfen der Polizei auch andere Behörden, wie z.b. das Finanzamt mit. Auf den Treffen der Initiative „Keupstraße ist überall“ zeigte sich, wenn Betroffene der Anschläge die Möglichkeit hatten, von ihren Erfahrungen zu berichten, deren Zorn darüber, dass der Staat sie systematisch kriminalisiert und mit jahrelangen Ermittlungen gegen sie terrorisiert hatte.

Nach der Aufdeckung der wirklichen Verantwortlichen, der neonazistischen Mörder des NSU, weht nun ein anderer Wind durch die Politik. Es wird hektische Schadensbegrenzung betrieben, und alle Akteure zielen darauf ab, ihre Nichtverwicklung in die Kriminalisierung der Betroffenen zu belegen. Außerdem zeichnet sich ein Drang seitens der Politiker_innen ab, eine Positionierung für die Betroffenen PR-technisch zu verwerten. Unter anderem versuchte der SPD Politiker Sigmar Gabriel, sich öffentlichkeitswirksam unter dem Slogan „Eure Bombe galt auch mir“ in Szene zu setzen. Dies tat er, obwohl seine Partei, die SPD, im Landtag von NRW bis zuletzt gegen einen NSU Untersuchungsausschuss gearbeitet hatte. Erst als vollkommen klar war, dass die erforderlichen Mehrheiten nicht zustande kommen würden, gab die Partei ihre Opposition gegen die Aufklärung auf.

Einige Betroffene der Anschläge sagten uns auf Treffen der Initiative „Keupstraße ist überall“, dass sie sich während der Inszenierung zu Statist_innen degradiert fühlten. Währenddessen führt der Staat eine Offensive um die Deutungshoheit über die Anschläge. So reagierte Bundespräsident Joachim Gauck auf ein Transparent, welches die Verstrickung von Geheimdiensten in den NSU- Skandal thematisierte mit den Worten, das könne er „nicht erfassen.“ Die Vizepräsidentin des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Catrin Rieband bezeichnete die NSU-Morde als „singuläre Ereignisse“.

Nahezu die gesamte Medienlandschaft berichtete ausschließlich von den Auftritten und Reden jener Staatsorgane, die vor Jahren noch maßgeblich Kriminalisierung und Stigmatisierung der Betroffenen mit zu verantworten hatten. Beliebt ist auch die Deutung des NSU-Phänomes als einem „mordenden Trio“, das keinerlei Bezug zur gesellschaftlichen Realität hat. Der Staat kann sie als „Einzeltäter“ verdammen. Auf diese Art und Weise gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Rassismus, der die Grundlage für den neonazistischen Terror war, zu vermeiden. Nötig ist nur eine moralische Verurteilung ohne eine wirkliche Aufarbeitung.

Je länger jedoch das Verfahren andauert, desto mehr zeigt die Recherchearbeit vieler unabhängiger Aktivist_innen, dass die Deutung von drei isolierten Einzeltätern keinerlei reale Grundlage hat. Vielmehr verdichten sich die Hinweise auf ein breites Netzwerk von Mitwissenden und Unterstützenden, die dem NSU sein mörderisches Handeln erst ermöglicht haben. Auch zeigt sich die Verwicklung von V Leuten des Verfassungsschutzes in Strukturen in der nächsten Nähe des NSU. Doch das ist nicht alles.

Mittlerweile muss davon ausgegangen werden, dass es kaum eine überregional aktive bzw. relevante Neonazistruktur ohne V-Leute von Inlandsnachrichtendiensten gegeben hat. Ohne das V-Leute-System wäre den sowohl im Hinblick auf die Anzahl der AktivistInnen als auch Organisationen überschaubaren und hierarchischen Neonazistrukturen der 1990er Jahre der Sprung zur Neonazibewegung in den 2000er Jahren nicht gelungen. Diese breite Bewegung und deren Unterstützung, die sie dem NSU zukommen ließ, sind ohne einen gesellschaftlichen Nährboden, einen weit verbreiteten Rassismus, nicht zu denken.

Die Initiative „Keupstraße ist überall“ will ein deutliches Zeichen gegen diesen Rassismus setzen. Wir konzentrieren uns momentan darauf, die Betroffenen der Anschläge zu den Prozessen zu begleiten und Unterstützung zu bieten, damit sie den Nazis, welche sie ermorden wollten, und dem Staat, welcher sie nicht schützen wollte, nicht allein gegenüber treten müssen.

Außerdem werden wir gemeinsam demonstrieren! Wir werden alles aussprechen, aufzeigen und anklagen, was bei den Ermittlungen des NSU Prozesses durch staatliches Versagen oder aktives Vertuschen der Behörden unter den Tisch fällt. Denn der Prozess bemüht sich nach Kräften, unpolitisch zu bleiben. Es wird nicht gesprochen von rassistischen Ermittlungspraktiken der Polizei und Naziunterstützung durch V-Leute. Die Betroffenen der Anschläge, die Hinterbliebenen der Mordopfer werden nicht gefragt, was sie zu erzählen haben zu der skandalösen Misshandlung durch die Behörden. Wir werden dem organisierten Vergessen entgegentreten und eine Gegenöffentlichkeit schaffen.

Alle, die die Betroffenen und uns zu den Prozessen begleiten möchten, sind herzlich eingeladen, dies zu tun. Wir werden am Tag, an dem im NSU Prozess begonnen wird, die Anschläge der Keupstraße zu verhandeln, mit Bussen nach München fahren. Dort werden wir vor dem Gerichtsgebäude ganztägig eine Kundgebung abhalten und den Tag um 18 Uhr mit einer großen Demonstration abschließen. Alle, die Interesse haben, auch nach München zu fahren, können mit uns kommen. Wir werden die Betroffenen der Anschläge nicht mit dem Rassismus der Neonazis und des Staates allein lassen! Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Menschen nicht wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe diskriminiert werden!

Auf nach München!