Offener Brief zur neuen Einsetzung des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundes

Die Initiative „Keupstrasse ist überall“ unterstützt nachdrücklich die Forderung der NebenklagevertreterInnen im NSU-Prozess, dass der neu eingerichtete Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestages folgende Fragen in den Fokus rücken muss:

  • Welche Rolle spielte das V-Leute-System für die Entstehung des NSU und dessen Unterstützungsstrukturen?
  • Was wusste insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz und warum wurden nachrichtendienstliche Erkenntnisse ignoriert, die es ermöglicht hätten, die Morde zu verhindern?
  • Warum versuchen Bundesbehörden immer wieder, die Aufklärung zu blockieren oder systematisch zu verhindern?
  • Welchen Anteil hat institutioneller Rassismus an den Ermittlungsfehlern der Strafverfolgungsbehörden? 

Bei Betrachtung der Arbeit des Verfassungsschutzes fällt ein eindeutiges Muster auf: die Bedrohungen der Demokratie durch militante Neonazis verfolgt die Behörde faktisch nicht. Die Recherche-Ergebnisse vieler unabhängiger Journalisten, der NebenklagevertreterInnen, der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sowie antifaschistischer Gruppen, beweisen dass die Theorie von drei isolierten NSU-Einzeltätern nicht haltbar ist. Vielmehr gibt es zahlreiche Hinweise auf ein breites Netzwerk von Mitwissenden, Unterstützenden und Mittätern. Und es gibt deutliche Hinweise auf die Verwicklung von Polizei, V-Leuten und offiziellen Verfassungsschutzmitarbeitern in die Aktivitäten des NSU und seines neonazistischen Umfeldes. Dies wird durch einen früheren V-Mann bestätigt: „Im Prinzip kann man fast sagen, dass die halbe Führungsriege der Neo-Nazi-Szene aus Leuten im Staatsauftrag bestand … Wir haben die Nazi-Szene aufgebaut…“ (ARD 20.4.15)

JournalistInnen und antifaschistischen Gruppen – wie u.a. NSU-Watch – legten und legen bei der Aufdeckung neonazistischer Strukturen mehr Engagement und eine höhere Kompetenz an den Tag als die staatlichen Ermittlungsbehörden.

Das zeigte sich z.B. nach dem Messerattentat auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker: durch die schnelle Veröffentlichung der Information über den neonazistischen  Hintergrund des Täters durch Antifa-Aktivisten wurde die in ähnlichen Fällen übliche Erzählung des „Einzeltäters“ verhindert. Dagegen hat das Landesamt für Verfassungsschutz dazu bis heute anscheinend immer noch keine Erkenntnisse.

Wir fordern deshalb, dass auch den Recherche-Ergebnissen unabhängiger Journalisten, der NebenklagevertreterInnen und antifaschistischer Gruppen nachgegangen wird. Die Beschränkung allein auf die Akten – wie ein PUA-Obmann in NRW ankündigte (WDR 15.6.15) – ist nicht zielführend, da es ja gerade ein weiterer Aspekt des NSU-Ermittlungsskandals ist, dass zahlreiche Akten von den Sicherheitsbehörden geschreddert, geschwärzt oder zurückgehalten wurden.

Die Prozessführung in München, das Verhalten der Generalbundesanwaltschaft, aber auch Vorgehensweisen der Landes-Innenminister und manche Sequenzen in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen können wir nur als Ausdruck eines mangelnden Aufklärungsinteresses, wenn nicht gar als systematische Verhinderung der Aufklärung des NSU-Terrors und seines rechtsterroristischen sowie seines staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Umfelds begreifen. Wir denken dabei an die Ablehnung von wichtigen Beweisanträgen der NebenklagevertreterInnen, die Toleranz gegenüber den Gedächtnislücken der staatlichen Ermittler und gegenüber den eindeutigen Lügen der Neonazi-Zeugen, die Verweigerung von Aussagegenehmigungen von Verfassungsschutzmitarbeitern durch z.B. den hessischen Innenminister, die Nichtherausgabe und die Vernichtung von Akten.

Dies alles zeugt von einem im Staatsapparat tief verankerten institutionellen Rassismus. Die Vertuschung und Verteidigung des eigenen Fehlverhaltens und der Schutz neonazistischer V-Leute ist offenbar wichtiger als die Aufklärung der Morde an mindestens 10 Menschen und mehrerer, noch weit mehr Menschenleben gefährdender Bombenattentate und Banküberfälle.

Das gesellschaftliche Wissen von Betroffenen rassistischer Gewalt, antirassistischen Gruppen und Journalisten über die Zusammenhänge zwischen neonazistischen Aktivitäten und insti­tutionellem Rassismus wird immer noch an den Rand gedrängt. Dass aus all diesen öffentlich zugänglichen Informationen bisher keine Konsequenzen von Staat, Politik und Justiz gezogen werden, passt in den generellen skandalösen, bagatellisierenden Umgang mit dem Rechtsterrorismus und seinen Verbindungen in die staatlichen Institutionen und in die Gesellschaft.

Wir hoffen, dass der neue parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestages, aber auch die Ausschüsse der Länder, also auch der Untersuchungsausschuss NRW diesem Treiben ein Ende machen.

Dies ist um so wichtiger, da der Verfassungsschutz – unverfroren weiterhin das rechte Auge zukneifend -nach wie vor behauptet, dass es zur Zeit keinen organisierten Rechtsterrorismus gäbe, obwohl für jeden sichtbar ist, dass zur Zeit die Gruppen manifester Neonazis und die tendenziell faschistischen Bewegungen „besorgter“ Bürger immer mehr zusammenwachsen und immer gewalttätiger und terroristischer werden.

 

Presseerklärung der NebenklagevertreterInnen des NSU-Verfahrens in München: PE_NebenklagevertrerInnen_NSU_2_PUA