Offener Brief zum Fall Johann H.

OFFENER BRIEF

An die Landesregierung NRW
An die Fraktionen des Landtags NRW
An den Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss NRW
An die Staatsanwaltschaft Köln
Sehr geehrte Damen und Herren,

durch Recherchen der Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs wurde am 14.6.2015 bundesweit bekannt, dass die Bundesanwaltschaft bereits 2012 vom Verfassungsschutzamt-NRW über die frappierende Ähnlichkeit des Kölner Neonazi Johann H. mit dem Phantombild des Bombenlegers in der Probsteigasse informiert wurde. Das Amt teilte außerdem mit, dass er seit 1989 „geheimer Mitarbeiter“ für den Verfassungsschutz-NRW sei, Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung bestünden nicht.  Die jahrelange Tätigkeit für den Verfassungsschutz wurde implizit durch seinen Anwalt in einem Artikel des Kölner Express vom 19.06.2015 bestätigt. Darüberhinaus ist bekannt, dass Johann H. 1985 wegen eines Sprengstoffdelikts verurteilt wurde.

Wir hatten bereits 2014 auf diese Ähnlichkeit zwischen dem Phantombild und Johann H. hingewiesen und schon damals vermutet, dass er Verfassungsschutz-Mitarbeiter ist.

Wir fragen, warum diese Hinweise von Polizei, Staatsanwaltschaft und/oder Verfassungsschutz bisher offensichtlich völlig ignoriert wurden. Wurde den Hinweisen etwa nicht nachgegangen, weil H. „geheimer Mitarbeiter“ des Verfassungsschutzes NRW war?

Dieser Skandal zeigt einmal mehr, wie stark die Geheimdienste in den NSU-Komplex verstrickt sind und wie wenig staatliche Behörden an einer umfassenden Aufklärung interessiert sind.

So stehen bei der Aufklärung des Nagelbombenattentats in der Keupstraße 2004 immer noch Antworten aus, so z.B. zu der Anwesenheit weiterer Personen in der Straße während des Anschlags aus eventuell Polizei/Verfassungsschutz- und/oder NSU-Kreisen und zu den Videoaufnahmen mit dem auffälligen Pärchen in der Schanzenstraße.

Ebenso müssen die Bombenattentate in den 90er Jahren in Köln-Mauenheim, -Bilderstöckchen und -Ehrenfeld auf einen organisierten rechtsradikalen/neonazistischen Hintergrund untersucht werden. Diese Anschläge haben eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Anschlag in der Probsteigasse.

Die Verbindungen von Kölner Neonazis zu der Zwickauer Zelle müssen aufgedeckt werden. Es gibt Zeugenaussagen von einem ehemaligen Aussteiger, dass der Neonazi Axel Reitz, der offenbar im Auftrag des NRW-Verfassungsschutzes von Johann H. „betreut“ wurde, Kontakt zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehabt haben soll.

Es wird immer klarer erkennbar, dass die politisch bequeme These von der kleinen NSU-Dreiergruppe nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern dass sie Teil einer viel größeren, weiterhin agierenden Bewegung von Neonazis in Deutschland ist, die unter unterschiedlichen Namen auftreten, aber eng vernetzt sind. Die Fälle „Probsteigasse“ und „Keupstraße“ legen den Verdacht nahe, dass der NSU aus mehr Leuten bestand als jenen, die derzeit in München angeklagt sind.

Der wirkliche Skandal ist, dass diese Neonazis von den deutschen Sicherheitsbehörden faktisch gedeckt werden, um eigene mangelhafte Ermittlungen und/oder Verstrickungen eigener Mitarbeiter in Anschläge und Mordtaten zu vertuschen.

Wir fordern deshalb, dass die Aufklärung dieses Verhaltens der Behörden, das zumindest eine Strafvereitelung im Amt nahelegt, zu dienstrechtlichen bzw. strafrechtlichen Konsequenzen für die Verantwortlichen führen muss.

Skandalös ist auch die von der Bundesregierung geplante Ausweitung der Kompetenzen des Verfassungsschutzes und damit die Legalisierung der bisherigen Praxis ohne Aufarbeitung und Sanktionierung der Vergehen und ohne die Einführung einer wirksamen öffentlichen Kontrolle. Unter diesen Umständen bietet nach unserer Einschätzung nur die Auflösung des Verfassungsschutzes die Gewähr, die Komplizenschaft zwischen Neonazibewegung und Verfassungsschutzmitarbeitern zu beenden. Das System der V-Personen hat sich als unbrauchbar erwiesen. Mehr noch wurde dadurch der Aufbau eines extrem rechten Terrorsystems erst ermöglicht.

Wir fordern, dass unverzüglich die notwendigen Ermittlungen zu den Aufklärungsdefiziten bezüglich Probsteigasse und Keupstraße eingeleitet werden und für die Öffentlichkeit transparent gemacht werden.

Wir fordern aber auch, dass im NRW-Untersuchungsausschuss auch den Rechercheergebnissen von z.B. JournalistInnen und antifaschistischen Gruppen, –  wie u.a. NSU-Watch – die mehr Engagement und eine höhere Kompetenz als die Ermittlungsbehörden an den Tag gelegt haben – nachgegangen wird. Die Beschränkung allein auf die „vorliegenden Akten“, wie ein Sprecher des NRW- Untersuchungsausschusses in der Aktuellen Stunde des WDR am 15.6.2015 kund tat, ist nicht zielführend, da es ja gerade ein weiterer Aspekt des NSU-Ermittlungsskandals ist, dass von den Sicherheitsbehörden zahlreiche Akten geschreddert, geschwärzt oder zurückgehalten wurden.

Es entsetzt uns immer wieder, dass nun schon seit über 10 Jahren die Wahrheit hinter der Wahrheit der Morde des NSU und seiner Mittäter nur scheibchenweise und nur widerstrebend von den staatlichen Stellen zugegeben wird, und zwar nur aufgrund des zivilgesellschaftlichen Engagements und öffentlichen Drucks. Wie kann es sein, dass der Schutz krimineller V-Leute wichtiger ist, als die Aufklärung von 10 Morden und mehrerer Bombenattentate und Banküberfälle?

Es muss alles getan werden, dass die volle Wahrheit über den NSU und seine Mittäter sowie über die Verquickung mit den staatlichen Behörden endlich ans Licht kommt. Quellenschutz darf die Aufklärung nicht weiter behindern. Das sind wir vor allem den Leidtragenden des jahrelangen Terrors schuldig.
Mit freundlichen Grüßen


Initiative Keupstraße ist überall, 
19.06.2015 

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