Offener Brief an die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und die Mitglieder des Kölner Stadtrates

Köln, 21. März 2020

Sehr geehrte Frau Reker, liebe Mitglieder des Kölner Stadtrates,

die Kölner Stadtgesellschaft braucht einen Lern- und Erinnerungsort in Gedenken an die Opfer der rassistischen Anschläge des Nazi-Netzwerks „NSU“. 20 Jahre nach dem ersten Mord an Enver Şimşek wollen wir es nicht mehr hinnehmen, dass in allen Städten, in denen der NSU gemordet oder Anschläge begangen hat, sichtbar und dauerhaft daran erinnert wird, nur in Köln nicht. Wir fordern Sie auf, endlich aktiv zu werden und den Beschluss des Kölner Rats vom 15.12.2015 zum künstlerischen Wettbewerbsverfahren für einen geeigneten Denkmalentwurf in die Tat umzusetzen. Unsere Initiative hat sich im Herbst 2019 aus verschiedenen Einzelpersonen und Initiativen gegründet, um dem Stillstand in der Umsetzung des Mahnmales an der Keupstraße entgegenzuwirken.

Nach der Enttarnung des NSU Ende 2011 wurde in Köln erstmals die Forderung nach einem Gedenkort in direkter Nähe der Keupstraße — also dort, wo der NSU 2004 eine Nagelbombe zündete, um einen Massenmord an MigrantInnen zu verüben —laut. Und es sah gut aus, dass dieses Vorhaben auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in unmittelbarer Nähe des Tatorts in der Keupstraße realisiert werden könnte. Mehr als 15 Jahre war unter reger Beteiligung von Bürger*innen und Initiativen über die Pläne zur Neubebauung des Geländes diskutiert worden. Im Rahmen des so genannten Werkstattverfahrens wurde die Ecke Keupstraße / Schanzenstraße explizit als Standort für einen Gedenkort benannt. Auch der parallele Wettbewerb für ein Mahnmal zur Erinnerung an die Kölner NSU-Bombenanschläge weckte große Hoffnungen. Schließlich hatten sich alle Beteiligten, darunter auch Bewohner*innen der Keupstraße, Betroffene der Bombenanschläge und Stadtteilinitiativen einvernehmlich für den Entwurf eines interaktiven Gedenkorts des Berliner Künstlers Ulf Aminde entschieden, der seine physische Präsenz an eben jener Ecke Keupstraße/Schanzenstraße finden sollte.

Doch seitdem geriet der Prozess, der so hoffnungsvoll begonnen hatte, ins Stocken. Die Eigentümergemeinschaft des besagten Areals will von diesen Plänen nichts gewusst haben und weigert sich bis heute, eine Zusage für den Gedenkort an dieser Stelle zu geben. Mit dem lapidaren Verweis, dass der anvisierte Standort Privateigentum sei und die Kommune somit keine Handlungsmöglichkeiten habe, stiehlt sich die Kölner Politik und Verwaltung seitdem aus der Verantwortung.

Für uns, als Initiativen, die sich in dieser Stadt auf vielfältige Weise gegen Rassismus und für eine lebenswerte  Stadt für Alle engagieren, ist dieses verantwortungslose Verhalten nicht nachvollziehbar. Die Stadtverwaltung hat Spielräume, den Gedenkort an der Keupstraße zu realisieren und wir fordern sie auf, diese endlich zu nutzen.

Die Initiative „Herkesin Meydanı — Platz für Alle“ hat in ihrer Eingabe vom 20.02.2020 an den Ausschuss für Anregungen der Stadt Köln, die Ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten benannt:

– Die Stadt möge einen angebotsbezogenen Bebauungsplan aufstellen, der den „Herkesin Meydanı — Platz für alle“ an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße als Standort für das Mahnmal festschreibt.

– Im Falle eines Verkaufs des Grundstücks durch die Eigentümergemeinschaft möge die Stadt ihr Vorkaufsrecht geltend ma­­chen und die für den Gedenkort notwendige Fläche erwerben.

Wir, die unterzeichnenden Initiativen, sowie Betroffene der rassistischen Anschläge des NSU und AnwohnerInnen der Keupstraße, fordern die Stadt Köln auf, die Aufstellung eines rechtsverbindlichen Bebauungsplanes einzuleiten, um das Mahnmal an der Ecke Keupstraße/Schanzenstraße so bald wie möglich zu realisieren.

Zur Erinnerung — denn oft scheint es schon heute in Vergessenheit geraten zu sein: Der Anschlag des NSU in der Keupstraße zielte auf eine Vielzahl von Toten in der belebten Straße. Nur zufällig kam in Köln bei den beiden Bombenanschlägen niemand zu Tode. Der NSU hat mit seinen Anschlägen gezielt Orte und Menschen angegriffen, die die „Gesellschaft der Vielen“ darstellen. Die Anschlagsziele sind nicht willkürlich ausgewählt worden, sie galten ausnahmslos Kleinunternehmer*innen, die sich hier eine Existenz aufgebaut hatten.

Die Absichten der unbekannten Täter schienen zunächst aufzugehen. Die Ermittlungen der Polizei richteten sich ausschließlich gegen die Betroffenen. So wurden die Opfer zu Tätern gemacht und die Betroffenen erfuhren weder gesellschaftliche Solidarität noch offizielle Unterstützung. Die Anschläge und die Stigmatisierung der Betroffenen haben Verletzungen, Traumata und unermessliches Leid hinterlassen. Doch nach der Selbstenttarnung des NSU gab es auch in Köln eine Welle der Solidarität, so dass der Terror sein Ziel nicht erreichte. Die Keupstraße blühte wieder auf und wurde zum Symbol der vielfältigen postmigrantischen Stadtgesellschaft.

Status Quo — Leere Versprechen

Doch das Versprechen der Bundeskanzlerin nach lückenloser Aufklärung wurde nicht eingelöst und die weitverzweigten Nazi-Netzwerke und die Verstrickung der Behörden nicht aufgedeckt. Die Morde in Hanau, die Anschläge in Halle und der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die alltägliche rassistische Gewalt zeigen, dass die Nazi-Netzwerke noch gestärkt wurden. Entgegen aller offiziellen Bekenntnisse zur Solidarität ist das Mahnmal in Keupstraße bis heute nicht realisiert worden.

Dabei weckten die Pläne berechtigte Hoffnungen auf ein würdevolles Gedenken. Das Konzept wird von den Betroffenen der Keupstraße und der Probsteigasse befürwortet. Nun droht es zwischen den Interessen der Eigentümer, städtebaulicher Ideenlosigkeit und unverantwortlichen Handeln abgewertet zu werden. So gilt weiter das Diktum von Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlags von Mölln 1992: „Das Erinnern wird erkämpft.“

Wir denken, es wird Zeit, dass sich in dieser Stadt alle  — Bewohner*innen, Initiativen, Politik und Verwaltung  — mit allen Kräften dafür einsetzen, dass das Mahnmal endlich genau an dem Ort, der von Nazi-Terroristen angegriffen wurde, realisiert wird. Zollen wir der Keupstraße als elementarem Bestandteil unserer Gesellschaft Respekt. Schaffen wir einen Platz für Alle, der neue vielfältige Perspektiven ermöglicht. Realisieren wir ein Mahnmal, das Rassismus anklagt, aber auch von Solidarität und der elementaren Bedeutung der Migration für unsere Stadt spricht.

Nachtrag: Diesen offenen Brief und die Eingabe an die Stadt Köln haben wir seit einiger Zeit vorbereitet. Es ist erschütternd, dass wir nun zum Zeitpunkt unserer Einreichung weiteren Toten rassistischer Morde gedenken müssen. In Erinnerung an die Klage und Anklage der Angehörigen der NSU-Opfer, die schon 2006 in Kassel demonstrierten, fordern wir: „Kein weiteres Opfer“. In diesen Tagen sind unsere Gedanken, unser Mitgefühl und unsere Solidarität bei den Betroffenen, Angehörigen und Freund*innen der am 19.02.2020 in Hanau Ermordeten.

Mit freundlichen Grüßen,

Initiative „Herkesin Meydanı — Platz für alle“

Erstunterzeichner*innen

Abdullah Özkan, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße | Ayfer Şentürk-Demir, Betroffene des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße | Emine Kahvecioğlu, Betroffene des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße | Hasan Yıldırım, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße, Kuaför | Ismet Büyük, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße | Muarrem Şentürk, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße | ­Muhammet Ayazgün, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße, Café-Betreiber auf der Keupstraße | Özcan Yıldırım, Betroffener des Bombenanschlags 2004 in der Keupstraße, Kuaför  | Etem und Sermin Sagdic, Betroffene des Bombenanschlagss | Die betroffene Familie des NSU-Bombenanschlags in der Probsteigasse 2001 | Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße | Mitat Özdemir, Ehrenvorsitzender der IG Keupstraße | İbrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 und erinnerungspolitischer Aktivist | Esther Bejarano, Überlebende des KZ Auschwitz-Birkenau, Musikerin, Ehrenvorsitzende der VVN-BDA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) | Familie Satır, Überlebende des Brandanschlages in Duisburg 1984

Initiativen:

Allerweltshaus e.V. Köln | Antifa AK Köln | Autonomes Zentrum Köln | Bejarano & Microphone Mafia | Bürger*innenasyl Köln | Bürgerinitiative hab8cht | Deutsche Friedensgesellschaft — ­Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Gruppe Köln | DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V.) Köln | Friedensinitiative Köln Sülz/Klettenberg | GWM Geschichtswerkstatt Mülheim | IG Keupstraße | Initiative Nebenan.de | Initiative Keupstraße ist überall | Integrationshaus e.V. | Komitee für Grundrechte und Demokratie | Migrantifa nrw | Öffentlichkeit gegen Gewalt e.V. | Peace Brigades International (pbi) Regionalgruppe Köln-Bonn | Pflanzstelle Kalk | Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, Köln | TÜDAY — Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland e.V.  | Verein der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt e.V.) | Initiative Duisburg 1984 | Naturfreunde Ortsgruppe Kalk  und Bezirksgruppe Köln | Jugendclub Courage Köln e.V. | Hacı Bektaş Veli Cemhaus | Alevitisches Kulturzentrum Porz e.V

Einzelpersonen:

Joram Bejarano, Musiker | Prof. Dr. A. Panagiotopoulou, Universität zu Köln | Dr. Anne Klein, Universität zu Köln | PD Dr. Bettina Lösch, Universität zu Köln | Edith Lunnebach, Rechtsanwältin Nebenklage NSU-­Prozess, Köln | Prof. Dr. Elizabeta Jonuz, Hochschule Hannover | Univ.-Prof. Dr. Erol Yıldız, Universität Innsbruck | Prof.in Dr. Gudrun Hentges, Universität zu Köln | Harald Fuchs | Dr. Jost Rebentisch, Bundesverband Information Beratung für NS-Verfolgte e.V., Köln | Jürgen Crummenerl | Dr. Jürgen Zepp, Universität zu Köln | Julia Lingenfelder , Universität zu Köln | Prof. Dr. Julia Reuter, Universität zu Köln | Prof. Dr. Kemal Bozay, Internationale Hochschule in Düsseldorf | Laura Bach | Univ.-Prof. Dr. Manuel Zahn, Universität zu Köln | Müslüm Sakinc, Alevitisches Kulturzentrum Porz e.V | Prof. Dr. Stefan Neubert, Universität zu Köln | Prof. Dr. em. Wolf-Dietrich Bukow, Universität zu Köln | Boris Sieverts | Doğan Akhanlı | Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt Nebenklage NSU-Prozess | Dr. Susanne Schmidt, AWO Bezirksverband Mittelrhein e.V. | Ilias Uyar, Rechtsanwalt

Weitere Unterstützer*innen:

Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş, Antirassistische Initiative Berlin, BiLaN – Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU-Komplex, Initiative 12. August, Lesben gegen Rechts Köln, nachbarschaft köln-mülheim-nord e.V.: wir sind dabei! , VVN-BdA Köln: Wir sind dabei!, Deutsch-Türkischer Verein Köln e.V., Lübecker Bündnis Hafenstraße ’96, LC 36 e.V., Rainbow Refugees Cologne Support Group e.V., Allerweltshaus Köln, Kölner Friedensforum, Kölner Frauengeschichtsverein, Team Aktion Freiheit statt Angst

Hendrik Pietz, Johannes Specks: Danke, Dorothea Boxberg, Florian Malzacher, Eva Storms, Marc Wolff: Köln will eine weltoffene Stadt sein. Eine Stadt mit einem Gewissen. Eine Stadt, die die Errungenschaften seiner aus dem Ausland stammenden Mitbürger würdigt. Zeigen Sie diesen Menschen, dass sie ein Teil dieser Stadt sind! Es wird Zeit!, Marco Kammholz, Michael Becker, Birgit Morgenrath, Norman Louis, Nanna Heidenreich, Mehmet Emin Özcan, Thore Hagemann, Norbert Bogerts, Karsten Groth: Ich hoffe, dass die Initiative Erfolg hat! mit den besten wie solidarischen Grüßen aus Hamburg-Altona/Ottensen!, Antonia Skriver, Daniela Knor, Regine Heider, Werner Prof. Dr. Ruf: Bitte sorgen Sie dafür, dass eine Mahnung an dieses schreckliche Verbrechen immer sichtbar bleibt!, Martin Singe: Hiermit unterzeichne ich den Brief an Frau Reker u. Stadtrat v. 21.3.20, Helmreich Eberlein, Gerhard Spiess, Beate Hinrichs, Martin Strobel, Christoph Bongard, Forum Ziviler Friedensdienst e. V., Günter Otten, Wilhelm Prof. i.R. Dr. Teuerle, Kornella Langwald, Gürsoy Doğtaş, Milena Kaeder, Wilfried Hamm, Anne Bergmann: Als Kölner Bürgerin bin ich empört darüber, dass zum einen sich unsere politischen Vertreter nicht dazu „durchringen“ können, Ecke Keupstr./Schanzenstrasse als interaktiven Gedenkort zu manifestieren!, Christine Schaaf, Nuray Demir, Sabine Kuhlmei, Heinz Lägler, Stephan Wippel, Markus Prof. Dr. Dederich, Felix von Hatzfeld, Melanie Kroll, Janine Wieser: Es ist unsere Verantwortung., Kerstin Höfgen, Agnes Krieger, Martin Seidler, Lara Bethlehem: Sehr geehrte Frau Reker, liebe Mitglieder des Kölner Stadtrates, bitte nehmen Sie sich diesen wichtigen Anliegens an. Mit freundlichen Grüßen Lara Bethlehem, Prof. Dr. Ulaş Aktaş, Tyakowski, Antje Biertümpel, Lea Wissel, Johanna Stoll: Für ein lebendiges Gedenken!, Fatma Z., Una Lynch, Marie Busweiler, Donata Amara, Ecki Münch, Winfried Koch: Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, ich ersuche Sie, zum Zeichen der Wiedergutmachung und Solidarität gegenüber den Opfern der NSU an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße einen Standort für das vorgesehene Mahnmal einzurichten. Mit freundlichen Grüßen Winfried J. Koch (RA/StB), Anno Lauten: Unsere Gesellschaft muss dazu stehen und dafür brauchen wir an dieser Stelle ein Mahnmal. Zumindest. , Ansgar Drücker, Gerhard Tschöpe, Jan Henkel, Jana Weinmann, Anna Börger, Sami El-Hakim, Lieselotte Bhatia: wieviele Kriegerdenkmäler für die „Gefallenen“ beider Weltkriege gibt es in Köln? Da wird doch dieses wichtige Mahnmal seinen Platz bekommen!, Svenja Wichmann, Felix Meyer, Irene Franken, Susanne Siebel, Steffen Patzack, Regine Wittram, Peter Dippoldsmann, Ingrid Robbe, Veronika Heiligmann, Delia Marga Marie Heidekorn: Schon seit langem und gerade umso mehr aus aktuellem traurigen Anlass – brauchen wir ein Mahnmal um nicht zu vergessen.Um Respekt zu zeigen.Um die blinden Flecken unserer Gesellschaft sichtbar zu machen., Saskia Paulick, Bernhard Kessels: ich unterstütze die Initiative „Herkesin Meydani-Platz für alle“ und bitte sie, das Mahnmal zu erlauben., Eva-Maria Krane, Manon Diederich, Andrea Reusch, Hermann Schläger, Susanne Bücken, Spiros Dinas, Daniela Franken-Vahrenholt, Dexter Sharpe, Sefariye Eksi, A. Kashefsar, Claudia Faber, Christoph Ganslmeier, Christoph Schulenkorf: Erinnerungen und Orte des Mahnens führen zu Diskussion und Gespräch. Menschen erinnern sich und werden erinnert., Lisa Wiemes, Oliver Fassing, Peter Förster