Besuch des NSU-Prozess in München – ein Erfahrungsbericht

Am Montag, den 21.7.2014, fuhren wir mit zwölf Leuten nach München, darunter drei Prozessbeteiligte aus der Keupstraße.

Auf unserem Programm stand am Montagnachmittag ein Treffen mit dem Münchener Netzwerk, mit denen wir den Aktionstag X zur Verhandlung der Keupstraße organisieren. Abends besuchten wir das Residenztheater, wo das Theaterstück „Urteile“ von Christine Umpfenbach aufgeführt wurde, mit anschließender Podiumsdiskussion zum Thema „Alltag und Rassismus“, zu dem NSU-Watch und wir auf dass Podium eingeladen waren. Am Dienstag wollten wir gemeinsam den NSU-Prozess besuchen, bevor wir nachmittags wieder nach Köln zurückfuhren.

Resi_Urteile_RZ_Web-1Zwei Jahre haben Christine Umpfenbach und Tunay Önder Interviews mit 20 Personen aus dem Umfeld von Habil Kılıç und Theodoros Bulgaridis geführt, die 2001 und 2005 in München vom NSU ermordet wurden.

Die Interviewten sind Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Freunde der Ermordeten, Journalisten und Politiker. (Die Polizei hat Interviews verweigert). Die drei Schauspieler bringen diese Texte szenisch auf die Bühne. Dabei werden diese Situationen so intensiv dargestellt, dass man als Zuschauer_in das beklemmende Gefühl bekommt, diesen Szenen beizuwohnen – ohne etwas tun zu können.

So wie der Ausspruch von Otto Schily, die bisherigen Erkenntnisse „deuten nicht auf einen rechtsterroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu“ hin, in Köln die Keupstraße zur Verfolgung freigegeben hat, war es in München die Schlagzeile am Tag nach dem Mord an Theodoros Bulgaridis, „Eiskalt hingerichtet – Das siebte Opfer. Türkenmafia schlug wieder zu“, mit der die Familie des Opfers auf der Suche nach ihrer Verbindung zu einer „Türkenmaffia“ so drangsaliert wurde, dass sie keine Alternative sah als Deutschland zu verlassen.

Wenn die Ehefrau von Habil Kılıç mehrfach nach ihrer Ehe ausgefragt wird, die Ermittler die Wohnung durchschnüffeln, wird noch mal deutlich, wie Menschen, die nach so einem Verbrechen Zuneigung und Unterstützung benötigen und verlangen können, stattdessen wie Verbrecher behandelt werden. Wie der Bruder und die Schwägerin des Ermordeten nach drei Wochen seinen Laden reinigen müssen, sein Blut zusammenschaben – und begraben. Die Tochter muss die Schule verlassen, weil Eltern und Lehrer um die Sicherheit fürchten. Gleichzeitig erleben wir, wie Ermittler gar nicht anders denken können, wie in rassistischen Kategorien: als die Verhörten auf ihre Fragen nicht antworten können, kommt niemand auf die Idee, dass sie vielleicht wirklich nichts wissen, nein, „sie blockieren durch ihr Schweigen die Ermittlungen“.
(Genau wie der Kölner Staatsanwalt, der nach 4 Jahren die Ermittlungen des Bombenanschlags einstellt, und nicht etwa sagt, wir haben keine Spur, oder wir sind auf der falschen Spur, sondern „Die halten dicht. Wir kommen keinen Schritt weiter.“) Sie lassen die Schuld bei den Opfern – und sehen nach dem 4. November 2011 absolut kein Fehlverhalten (was ihre rassistisch beschränkte Sicht noch mehr unter Beweis stellt).

Dauernd stoßen wir im Stück auf Parallelen zu den Kölner Ereignissen und sie beweisen für sich: das ist kein Zufall, dahinter steckt ein System.

Ich möchte dazu aus dem lesenswerten Beiheft zum Stück Urteile zitieren, in dem Tunay Önder schreibt:

Rückblickend können wir feststellen, dass die Ermittlungen und Recherchen an der Realität vorbeigingen. Das gilt sowohl für die polizeiliche als auch für die journalistische Recherchearbeit, ganz zu schweigen von den dubiosen Methoden des Verfassungsschutzes. Man kann fast sagen, dass die Ermittlungen und Recherchen in den Staatsund Medienapparaten weniger rekonstruierend als vielmehr konstruierend waren: Sie haben ihre eigene Wirklichkeit erst geschaffen. Ich dachte bisher, diese Arbeitsweise – zu erfinden, zu phantasieren – sei dem Theater vorbehalten. Nun scheint sich die Sache umzukehren. Denn wir versuchen mit dem Theaterprojekt URT EIL E möglichst nah an der Realität zu bleiben. Nur an wessen Realität?

Es scheint diverse Realitäten oder Parallelwelten zu geben, wie beispielsweise die der Medien oder die der Ermittlungsbehörden, in der fast ausschließlich Menschen mit „weißen“ Erfahrungen und Perspektiven sitzen. Deren Phantasie in Bezug auf bestimmte Menschengruppen, von denen sie womöglich keinen Einzigen je näher kennengelernt haben, war besonders groß und hat über die Morde hinaus viel Schmerz und Leid ausgelöst.

Das Stück endet mit der Frage der Schwiegermutter des ermordeten Habil Kılıç: „Wer hat eigentlich den Befehl gegeben, uns so zu quälen?“

Das herauszufinden, dazu wollen wir beitragen.

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Zur anschließenden Podiumsdiskussion, es waren mehr als die Hälfte der Zuschauer_innen geblieben, waren wir mit NSU-Watch als eine der Initiativen eingeladen, die sich rund um den Prozess gebildet hatten und im Dialog mit Christine Umpfenbach zum Stück beigetragen hatten. Wir haben die Situation in der Keupstraße vorgestellt, die Geschichte unserer Initiative und es gab, moderiert von Andrea Koschwitz, der Dramaturgin von „Urteile“, eine engagierte Diskussion über das Stück (Wie ist die Rolle der Polizei? Wie weit wird bei der Bearbeitung der Morde und Verfolgung der Angehörigen der Opfer durch die Behörden der alltägliche Rassismus vergessen, vernachlässigt? …). Christine Umpfenbach schloss mit der Feststellung: „Das Stück hat sich während der Proben ständig verändert. Es ist ein lebendiger Prozess, der auch weiterlebt.“

Zum munteren Austausch mit dem Ensemble und dem Münchener Netzwerk kam es dann noch auf dem anschließenden Umtrunk in der Theaterkantine.

DSC02821So langsam wird uns das Münchener Westend vertraut wie Mülheim: Fast alle fanden dort bei FreundInnen des Netzwerks eine Übernachtung und am nächsten Morgen trafen wir uns zu gemeinsamen Frühstück in einem befreundeten Wohnkollektiv.

Weil der Prozess wegen des Vertrauensentzugs von Zschäpe gegen ihre Pflichtverteidiger erst mittags los ging, schafften wir es auch alle gut rein. (Das „Keupstraße ist überall“-T-Shirt war kein Hindernis.) Erst wurde Zschäpes Antrag abgelehnt. Danach erlebten wir eine Zeugin, die, es war ihr nicht ganz klar, von 2005 oder von 2007 bis 2011, mit ihren Familien und gemeinsam mit dem NSU-Trio jährlich ihre Ferien auf einem Campingplatz auf Fehmarn verbrachten. Lieb, freundlich, zuvorkommend, witzig, spaßig, mehrmals wurden die drei in dieser Art von ihr beschrieben. Liese oder Lieschen, Max und Gary, wie sie sich nannten, waren Freunde der Familien. Es wurde telefoniert, besucht, Geschenke mitgebracht und wenn das Trio wenig Platz im Wohnmobil hatte, brachten sie den Grill schon mal zu den Freunden. Die immer fett gefüllte Geldbörse (offen gezeigte 500-er)wurde von „Liese“ verwaltet. Sie bezahlte immer.

Nach wie vor erschüttert und erzürnt die gleichgültige Miene von Zschäpe die Opfer. Es wird als eine verachtende Provokation empfunden. Man wird an die Szene in „Die Lücke“ erinnert, aus der ohnmächtige Wut gegenüber so einem Verhalten spricht.

Die zweite Frage, wo ist da Untergrund? Wo ist ein „Verstecken vor den Verfolgern“? Wussten sie, dass es keine Verfolger gab? Sie gaben sich sicher, locker lustig. Sie erklärten den Familien, wie man Bomben baut. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich als Mörderbande durch Deutschland bewegten auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Einzig die Namen sind falsch.

10 Morde, 2 Bombenanschläge, 15 Banküberfälle und die Herrschaften machen in aller Öffentlichkeit sieben Jahre an der gleichen Stelle Urlaub. Deutschland als Paradies für rechte Terroristen? Die Banalität des Bösen?

Auf der Rückfahrt werden die Eindrücke in heftigen Diskussionen verarbeitet.

So eine Fahrt schafft viel: Sie schafft eine Vertrautheit mit dem Ort, die Voraussetzung ist, sich dort sicher zu bewegen und sicher auftreten zu können. Sie schafft ein enges Verhältnis zu den Freunden und Freundinnen in München und das schöne Gefühl, willkommen zu sein. Der Theaterbesuch festigte die Überzeugung, dass es nicht nur eine kleine Szene ist, die sich in intensiver Weise mit dem Prozess auseinandersetzt, sondern es ist eine Bewegung in der Stadtgesellschaft, die durch die Verbrechen des NSU und den Prozess aufgerüttelt wird und neue Wege geht. Nicht zuletzt schafft so eine Fahrt das Vertrauen und Verständnis untereinander und hilft die menschliche Atmosphäre zwischen uns zu erzeugen, für die unsere Initiative auch steht. Es wurde politisiert und gelacht und, als wir nach gefühlten 18 Stunden in Köln ankamen, sich in einer neu gewonnenen Herzlichkeit voneinander verabschiedet.

(PB)